„Die Erdhütte ist der Anfang aller Cultur…“ – Erdhütten zwischen Schicksal und Start up
In den ausgedehnten Heide- und Moorgebieten Nordwestdeutschlands und der östlichen Niederlande kam es bis ins 20. Jahrhundert vor, dass Menschen in Erdhütten wohnten. Die zeitgenössischen niederdeutschen Bezeichnungen Plaggen-, Schullen-, Kluten- oder Pullen-Hütten bzw. -Buden verweisen auf ihre Bauweise. Bei Plaggen und Schullen handelt es sich um Erdschollen, in der Regel Heidesoden, das heißt die von Heide be- und durchwachsene oberste Vegetationsschicht, die in den Heide- und Moorgebieten traditionell auch als Dünger in der Eschwirtschaft eingesetzt wurde. Aus diesen Plaggen wurden Wände und häufig auch das Dach aufgesetzt. Kluten und Pullen sind dagegen Erd- bzw. Torfklumpen, die im Torfstich im Moor gegraben wurden. Plaggen wie Klumpen wurden aus der direkten Umgebung des Bauplatzes gewonnen. Der Bau einer solchen Hütte dauerte je nach Umfang zwischen einigen Stunden und wenigen Tagen und verlangte nur geringes handwerkliches Geschick.
Erdhütten dienten all denen als Wohnung, die sich ein „richtiges“ Haus nicht leisten konnten und mangels wirtschaftlicher Alternativen gezwungen waren, ihr Auskommen auf unfruchtbarem „Ödland“ zu finden. Bei der Besiedlung von Heide und Moor boten sich Erdhütten als erste Unterkunft an: Sie konnten ohne Kostenaufwand und tiefergehende Fachkenntnisse aus den vor Ort anstehenden Materialien in kurzer Zeit errichtet werden. Der Bau schwerer Gebäude war im Moor wegen des nachgiebigen Grundes ohnehin erst nach aufwendigen Vorarbeiten – Abtorfen des Bauplatzes oder Setzen von Rammpfählen – möglich. So bildete das Wohnen in Erdhütten bei erfolgreicher Urbarmachung eines „Heide- und/oder Moorplackens“ ein mehr oder weniger langes Durchgangsstadium hin zum „definitiven“ Haus. Dies galt besonders seit dem späten 19. Jahrhundert, nachdem sich vor allem durch den Einsatz von Kunstdünger und die Intensivierung staatlicher Unterstützung im Rahmen der sogenannten „Binnenkolonisation“ die Erfolgsaussichten der Neusiedler auf eine auskömmliche „Ackernahrung“ nachhaltig verbessert hatten. Die Erdhütten gerieten zunehmend in die Kritik. So regte 1885 der Amtshauptmann des Amtes Friesoythe Dr. Marcell Driver (1852-1912) den „Erlaß eines polizeilichen Verbots des Neubaus von Erdhütten zum Zweck der Einrichtung von Menschenwohnungen“ an. Sein Cloppenburger Amtskollege Johann Ernst von Heimburg (1833-1912) sah in den Erdhütten hingegen den „Anfang aller Cultur in unsern Torf- und Heidegegenden“, und stellte sie der „Blockhütte in den Wäldern Amerikas“ gleich. Zuvor war das Siedeln auf der Heide und im Moor ohne staatliche Unterstützung und die Errungenschaften der modernen Landwirtschaft indes wesentlich risikoreicher, das Wohnen in Erdhütten wurde nicht selten dauerhaft. Die Betroffenen verarmten häufig, ihre Lebensumstände und Wohnbedingungen waren prekär.
Am anschaulichsten zeigen Fotografien, die seit Ende des 19. Jahrhunderts in überraschend großer Zahl zu Dokumentationszwecken aufgenommen wurden, Baugestalt, Material und Teile der Konstruktion der Hütten. Hinter den Fotos standen zum einen wohnungsreformerische Motive, die die damals aktiven Wohnungshygieniker gegen Erdhütten vorgehen ließen. In ihrer krassen Darstellung prekärer Wohnverhältnisse dienten ihnen die Erdhütten-Fotos als Belege für die Notwendigkeit eines obrigkeitlichen Einschreitens gegen diese. Zum anderen waren es von einem kulturpessimistisch motivierten Rettungsgedanken getragene volks- und heimatkundlich Interessierte, die angesichts des vorhersehbaren Verschwindens dieser als „urzuständliche Behausung[en]“ empfundenen Gebäudeform Fotoapparat und Zeichenstift zückten. Eine Zeitzeugin, die um 1910 als Kind in Nikolausdorf (Gem. Garrel, Lkrs. Cloppenburg) in einer solchen Plaggenhütte gewohnt hatte, beschrieb 1976 den Aufbau folgendermaßen: „Die Hütte war nach dem Muster der Schafskaoven [Schafkofen, Schafstall] gebaut, die Sparren standen auf der Erde. Äste und Zweige ersetzten die Latten. Man packte die Heidesoden darauf, am besten mit den lebenden Pflanzen nach oben. So wuchsen sie weiter, das Ganze blieb dann dicht. In der Hütte war es schön warm. Ein eingesetztes Glasstück brachte Licht in das Dämmerdunkel. Wir haben von März bis gegen Weihnachten darin gewohnt, da war das [richtige] Haus fertig. Sie [die Erdhütte] blieb nach dem Auszug als Schuppen stehen.“
Früheren Einblick geben seit dem späten 18. Jahrhundert veröffentlichte Reisebeschreibungen und interne Berichte der örtlichen Verwaltungen. Der Oldenburger Schriftsteller und Theaterintendant Ludwig Starklof (1789-1850) schilderte 1847 eine Erdhütte, die er allerdings als Ausnahmeerscheinung kennzeichnete: „In der Hütte umherblickend, sah ich ein Bild der Armuth, daß mir das Herz im Leibe erzitterte. Den nackten Moorboden uneben und feucht, hatte ich unter den Füßen, die braunen Torfwände schief und schlecht aufgemauert um mich her; über dem Kopf eine elende aus wurmstichigen Brettern zusammengeschobene Decke; zwischen ihren Lücken sah ich die krummen Sparren, welche das aus Haide und Stroh zusammengepatschte Dach trugen, und dies hatte Löcher genug, um von oben den blauen Himmel hineinblicken zu lassen [...]. Jenes durch die Dachlücken hereinblinzelnde Licht war nicht zuviel; denn die kleinen in die Wände geklemmten Fenster waren so blind, auch so vielfach mit Papier verklebt und Lumpen ausgestopft, daß sie kaum einem Tagesstrahl Zugang gewährten“. Knapp 50 Jahre später hatten sich die Verhältnisse noch nicht gebessert. 1902 berichtete der Direktor der Landesversicherungsanstalt Oldenburg Augustin Düttmann (1857-1934) über die Erdhütte einer Moorkolonistenfamilie in Loher Ostmark ( Gem. Barßel, Lkrs. Cloppenburg) und fügte seinem Bericht aus heutiger Sicht wertvolles Bildmaterial bei, „weil die Beschreibung unglaublich klingen würde: „Aus den haidedurchwachsenen Erdschollen werden die Wände aufgesetzt; mit demselben Material wird das Dach eingedeckt, in der abgebildeten Hütte, nachdem – eine seltene Ausnahme! – durch Anbringung einiger Reihen alter Dachziegel über den Betten wenigstens etwas mehr Sicherheit gegen Schnee und Regen geschaffen war. Höchstens in der Nähe des Heerdes wird der Fussboden durch ein Ziegelsteinpflaster befestigt, im übrigen durch den vom Pflanzenwuchs befreiten mit einer Sandschicht bedeckten Erdboden gebildet. Der Raum wird durch den Schrank und die am Fussende des Bettes mit Torfsoden aufgebaute Wand nur sehr unvollkommen in zwei Theile geschieden. Der vordere, der Thüre zunächst belegene dient der Ziege oder dem Milchschaf und, wenn ein solches bereits vorhanden ist, dem Schwein zum Aufenthalt, der hintere, der durch ein oder zwei gelegentlich eines Hausabbruchs erstandene alte Fenster nothdürftig beleuchtet wird, der Familie zur Wohnung. In der Mitte dieses hinteren Theiles brennt das offene Heerdfeuer, dessen Rauch den ganzen Raum ausfüllt, bis er durch die niedrige, stets offenstehende Thür, der einzigen Oeffnung, durch welche frische Luft eindringen kann, seinen Weg ins Freie findet.“ Laut Düttmann betrug die Lebensdauer solcher Hütten drei bis vier, mitunter auch acht Jahre.
Über das mengenmäßige Ausmaß, den der Bau von Erdhütten einnahm, lässt sich aufgrund der Quellenlage nur ein andeutungsweises Bild gewinnen. Zwar ist davon auszugehen, dass Erdhütten in der Anfangszeit größerer Neuansiedlungen, wie sie namentlich bei der Moorkolonisierung vorkamen, gleichzeitig in größerer Zahl bewohnt wurden, hier aber meist nur vorübergehend. Insgesamt betrachtet kam das Erdhüttenwohnen eher vereinzelt vor, das aber kontinuierlich bis ins 20. Jahrhundert hinein. Zwei miteinander verwobene Entwicklungen setzten den Erdhütten dann seit Anfang des 20. Jahrhunderts ein Ende:
1. Die Agrarmodernisierung, insbesondere der Einsatz von Mineraldünger, erhöhte die wirtschaftlichen Erfolgsaussichten der landwirtschaftlichen Neusiedler und beschleunigte die Arrondierung der neuen Bauernstellen, was den Bau „ordnungsgemäßer Wohnhäuser“ aus zugekauften veredelten Baumaterialien durch professionelle Handwerker in gesellschaftlich anerkannten Baumustern erleichterte.
2. Der Staat übernahm mehr Verantwortung und griff aktiv in das Siedlungsgeschehen ein, indem er bessere materielle Voraussetzungen – Erschließung der Siedlungsflächen, mehrjährige Steuerbefreiung, Hausbaudarlehen, fachliche Beratung – schuf und diese mit grundlegenden Vorschriften hinsichtlich der wohnungshygienischen Einrichtung der Bauten (Schornstein, mehrere Schlafkammern, bauliche Trennung vom Vieh) verband.
3. Außerdem stand mit hölzernen Barackenbauten eine schnell zu errichtende, kostengünstige Unterbringungsalternative zu Verfügung, die wohnhygienisch vorteilhafter war.
Ohne den aufgrund ihrer konstruktiven Mängel gesundheitsschädlichen Erdhütten das Wort reden zu wollen, soll abschließend noch auf zwei höchst aktuelle erdhüttenspezifische Eigenheiten hingewiesen sein. Da ist zum einen die flächenschonende und platzsparende Konzentration des innerhäusigen Wohnens auf möglichst wenig Raum, wie ihn die Tiny-House-Bewegung immer prominenter propagiert.
Zum anderen entspricht die Verwendung natürlicher und naturbelassener Baustoffe den Grundprinzipien des ökologischen Bauens, in dessen Rahmen seit einiger Zeit insbesondere der Lehm als Baustoff eine gewisse Renaissance erlebt.
Bei beiden handelt es sich um Strategien für eine nachhaltige Ressourcennutzung im Bau- und Wohnbereich, die allerdings nicht – wie bei den Erdhütten – in der persönlichen Not der Bauherren bzw. einer siedlungstechnischen vorübergehenden Notwendigkeit gründen, sondern die angesichts einer durch den übermäßigen Ressourcenverbrauch aufziehenden allgemeinen Notsituation von einer Avantgarde als dauerhafte Alternative bewusst verfolgt werden. Es stellt sich die Frage, welche Wohnansprüche heute als angemessen erscheinen und welche Wertvorstellungen die heutigen Regierungen und Behörden diesbezügliche Maßnahmen treffen lassen.
Anmerkungen
[1] Michael Schimek: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Staatliche Einflussnahmen auf das ländliche Bauen: Das Land Oldenburg zwischen 1880 und 1930. Diss. (= Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland, Band 106). Münster, München, New York, Berlin 2004, S. 43-47, 323-324 und die dort nachgewiesene Literatur.
[2] Michael Schimek: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Staatliche Einflussnahmen auf das ländliche Bauen: Das Land Oldenburg zwischen 1880 und 1930. Diss. (= Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland, Band 106). Münster, München, New York, Berlin 2004, S. 317-323, 387-388; Michael Schimek: Alles neu? – Ländliches Bauen und Koloniegründungen im Oldenburger Münsterland im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: Jahrbuch für das Oldenburger Münsterland 68 (2019), S. 145-175, hier S. 157-167.
[3] Vgl. zu Barackenbauten: Thomas Spohn: Gebäude für die Translozierung ab Fabrik – der Fertigbau im 20. Jahrhundert. In: Fred Kaspar (Bearb.): Bauten in Bewegung. Von der Wiederverwendung alter Hausgerüste, vom Verschieben und vom Handel mit gebrauchten Häusern, von geraubten Spolien, Kopien und wiederverwendeten Bauteilen (= Denkmalpflege und Forschung in Westfalen 47). Mainz 2007, S. 155-208, hier S. 152-153.
[4] Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Tiny_House_Movement; Seitenaufruf 21.3.2019.
[5] Vgl. stellvertretend für viele: Thomas Scharf. Lehmbau-Bilderbuch. Stuttgart 2014.
Bildnachweis
1. Plaggenhütte Bucksande 1913, Gemeinde Apen/Landkreis Westerstede
(Fotograf: F.W. Jaspers/Archiv Museumsdorf Cloppenburg)
2. Plaggenhütte Loher Ostmark, in: Augustin Düttmann, 1902
3. Erdhütte Esterwegen. In: Der Hümmling. Ein Heimatbuch. Kath. Kreislehrerverein des Kreises Hümmling. Werlte 1929
4. Plaggenhütte Bucksande 1913, Gemeinde Apen/Landkreis Westerstede
(Fotograf: F.W. Jaspers/Archiv Museumsdorf Cloppenburg)